UNFASSBAR! DIE SPONTANSTE MEISTERFEIER ALLER ZEITEN!

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Bild: Daniel Glaser

Der Hallensprecher der Rhein-Neckar-Löwen, Kevin Gerwin schildert den Ablauf der spontansten Meisterfeier aller Zeit.

Ich bin seit über 10 Jahren als Moderator, Kommentator und auch als Comedian im ganzen Land unterwegs. Ich habe wirklich schon viel erlebt. Und trotzdem schaffen es die Rhein Neckar Löwen immer wieder meine Faszination auf ein neues Level zu heben. Es ist einfach unfassbar, was ich mit den Löwen in meinen bisherigen 4 Jahren alles erleben durfte. Kurzfristig eingesprungen als Hallensprecher im EHF-Cup Viertelfinale gegen Magdeburg. Dann als Belohnung nach Nantes gereist und den ersten Titel der Vereinsgeschichte miterlebt. Die verlorene Meisterschaft in meiner ersten vollen Saison, in der wir einfach mal ALLE Heimspiele gewonnen haben. In der letzten Saison dann endlich die hochverdiente deutsche Meisterschaft in Lübbecke. Gefeiert mit mehreren tausend Fans in Mannheim. Und wir alle haben jede einzelne Sekunde genossen, weil wir uns sicher waren, dass wir so etwas lange nicht mehr erleben werden. Doch dann…

…dann kam der vergangene Mittwoch. Ein Mittwochabend, der einfach alles auf den Kopf stellte, was wir bisher gesehen hatten. Durch den überragenden Sieg in Flensburg hatten sich unsere Jungs in eine gute Ausgangslage für die Titelverteidigung geschossen. Nur ein paar ganz optimistische Löwenfans ließen sich so ab Dienstagmorgen zu einem Gedankenspiel hinreissen. Auch ich hatte am Dienstagmorgen in meinem Büro bei der neuen welle in Karlsruhe das erste Mal den völlig abwegigen Gedanken, dass man bei einer Niederlage Flensburgs in Göppingen bereits am Mittwochabend die deutsche Meisterschaft ausgerechnet zuhause gegen Kiel feiern könnte. Diese Gedankenspiele begannen meist mit einem “Stell dir das mal vor…”. Ich habe diese Gedankenspiele schnell wieder aus meinem Kopf gestrichen. Ich fand es wichtiger, überhaupt die Meisterschaft zu holen. Mit Kiel, Wetzlar auswärts und Melsungen warteten noch echte Prüfsteine auf uns.

Trotzdem ließ ich mich am Mittwochnachmittag zum Feierabend dazu hinreißen unserer Programmchefin mitzuteilen, dass es im höchst unwahrscheinlichen Fall sein kann, dass ich am Donnerstag etwas später kommen würde. Also Abfahrt zur SAP-Arena. In der Regiesitzung wird zum Ende kurz angeschnitten, dass wir auch Meister werden könnten. Alle lachen. Für den Fall der Fälle einigt man sich grob auf “ein paar Interviews” und stellt fest, dass dies dann wohl die spontanste Meisterfeier aller Zeiten wäre. Es folgen erneut Sätze, die mit “Stell dir das mal vor” beginnen und mit einem Kopfschütteln enden. Es geht runter in die Arena und für mich zum Fußball spielen mit den Jungs. Seit einem Champions-League-Spiel in Frankfurt spiele ich hier und da bei den Jungs mit. Sie freuen sich darüber, weil sie mir aufgrund meiner Vielzahl an Fehlern ständig auf den Arsch schießen dürfen. Mir macht es einfach nur Spaß. Die können nämlich auch nicht besser Fußball spielen als ich. Auch wenn sie immer das Gegenteil behaupten würden.

Um genau 19:59:11 beginnt das Fan-TV in der Arena. Die zweite Halbzeit in Göppingen läuft parallel. Sport1 will beide Spiele live im TV zeigen. Es wird für uns ein Glücksfall, denn das Flensburger Spiel in der Göppinger EWS-Arena wird vor unserem Anpfiff beendet sein. Auf die Frage aus der Regie, ob ich wissen möchte wie es in Göppingen steht antworte ich mit “Nein”. Doch diese Bitte war utopisch. Es herrschte eine extreme Unruhe in der Arena. Ich war mir sicher, dass mir sowieso niemand zuhören würde. Eine ganze Halle schaute gebannt auf die Handys. Also ging ich zumindest kurz in den Zeitnehmerraum und schaute auf den Fernseher. Göppingen führt mit vier Toren Vorsprung und das Ende des Spiels war in Sicht. Sollte es tatsächlich zu dieser unfassbaren Situation kommen? Sollten wir tatsächlich heute die Möglichkeit haben die deutsche Meisterschaft zu verteidigen? Ich versuchte diesen Gedanken in meinem Kopf nicht zu zu lassen. Zu oft wurde mein Nervenkostüm in den letzten Jahren so bitterlich enttäuscht. Egal ob der verpasste Aufstieg der BG Karlsruhe in die erste Liga. Der Schock von Gummersbach und die vielleicht größte Enttäuschung meiner Karriere: Die verlorene Relegation des KSC gegen den Hamburger SV. Also hatte meine Bitte an die Regie weiterhin bestand. Ich will nix hören!

Während des Interviews mit meinem Kumpel Rüdiger Böhm, der uns sein neues Projekt “Follow The River” vorstellte, wurde die Unruhe in der Arena unerträglich. Ich beende das Interview und habe ein großes “Sorry” für Rüdiger in den Augen. Ich befürchte, es haben ihm nicht viele zugehört an diesem Abend. Doch ich glaube er versteht das. Rüdiger arbeitet trotz der Amputation beider Beine nach einem Unfall seit vielen Jahren im Profisport. Nach dem Ende des Interviews kommt die Ansage aus der Regie: “Kevin, jetzt müssen wir dir etwas sagen – Göppingen wird das Spiel gewinnen und wir werden die letzten zwei Minuten live auf dem Videowürfel zeigen”. Ich kann es nicht glauben. Morgens hatte ich Bastian Rutschmann noch eine WhatsApp-Nachricht geschieben, dass wir auf ihn zählen. Auch wenn “Rutsche” keine großen Spielanteile gegen Flensburg hatte, bin ich mir sicher, dass er an uns gedacht hat. Ich setze das Mikro an und gebe bekannt, dass Flensburg in Göppingen wohl verlieren wird und das wir die letzten zwei Minuten gemeinsam schauen werden. Der Jubel in der Arena ließ für einen kurzen Momentan den Eindruck zu, wir wären bereits deutscher Meister geworden. Ein paar Sekunden lassen die Livebilder aus Göppingen noch auf sich warten. Wir entscheiden uns, die Gegnervorstellung des THW noch schnell vorzuziehen. Die Aufstellung der Gäste zieht deshalb einigen Unmut auf sich zu. Doch dann ist es soweit. Der überdimensionale Videowürfel an der Decke der SAP-Arena zeigt das Spiel Göppingen gegen Flensburg. Die Übertragung stockt ständig und ist von so schlechter Qualität, dass schnell klar wird, dass es sich um einen Onlinestream handelt. Aber das ist allen egal! Die letzten 10 Sekunden des Spiels laufen an und die Arena zählt die Sekunden mit…

3 – 2 – 1 – grenzenloser Jubel in der ausverkauften SAP-Arena. Über 13.000 Menschen wird in diesem Moment klar: Wir können heute deutscher Merister werden. Die Löwen-Spieler schauen sich an. Im Gesicht von Andy Schmid sehe ich wieder diesen Willen. Dieser Mann hat eine unfassbare Mentalität. Ich wusste in diesem Moment, dass er alles – einfach alles tun wird, um heute diesen Titel klar zu machen. Auch die Kieler Spieler schauen sich gegenseitig an. Ich glaube ihnen wird in diesem Moment klar, dass ihnen ein für heute unschlagbarer Gegener gegenübersteht. Die Gäste aus dem Norden wissen genau, dass sie nicht mehr gegen die Löwen von vor 3 Jahren spielen müssen. Diese neue Mentalität der Rhein Neckar Löwen hat nichts mehr mit Nervenflattern zu tun. Die Kieler wussten genau, was sie heute in dieser Arena erwartet. Beide Mannschaften verlassen das Feld. Unsere Löwen werden mit tosendem Applaus in die Kabine verabschiedet. Ich überlege noch kurz, ob es ein Vorteil oder ein Nachteil ist, dass unsere Jungs jetzt wissen, dass sie heute Geschichte schreiben können. In der spontanen Euphorie gebe ich unserem DJ Sven den Auftrag das Badnerlied vom Band weg zu lassen. Ich will es ohne Hintergrundmusik hören.Die Arena ist voll. Alle sind heiß. Das Badnerlied aus 13.000 Kehlen hat bisher immer eine besondere Gänsehaut produziert. So ist es auch dieses Mal. Danach: Alles wie immer und doch ein wenig anders. Bei der Mannschaftsvorstellung hallen die Nachnamen wie Peitschenschläge durch die Arena. Es herrscht eine unfassbare Stimmung in unserem “Ufo”. Die Arena erhebt sich aus den Sitzen. Nach dem epischen Trailer kommt die Mannschaft. In dieser Saison habe ich mir angewöhnt die Mannschaft bei jedem Heimspiel mit den Worten “Hier sind unsere Löwen – Hier ist der deutsche Meister” anzukündigen. Heute fühlt sich das etwas komisch an. Es wird doch wohl niemand glauben, dass wir die Meisterschaft schon als eingefahren ansehen. Nein, niemand wird das glauben. Die Jungs stehen auf der Platte und genießen den Jubel von den Rängen. Das sie bei diesem Spiel zum ersten Mal das wirklich gelungene neue Heimtrikot von Erima tragen, geht fast unter.

Letzter Stimmungstest: “Wie ist die Stimmung bei euch?” – gefolgt von riesigem Jubel. Es kann losgehen. Die Löwen gegen den Rekordmeister THW Kiel. Aus “Stell dir das mal vor…” wird langsam ein “Wie geil wäre das denn?”. In eigener Halle deutscher Meister werden. Ausgerechnet gegen die Zebras von unserem alten Geschäftsführer Thorsten Storm? “Theo”, wir wir Storm in Mannheim nannten steht hinter mir im Eingang. Wie in alten Zeiten denke ich mir. Ich sehe ihn erst, als das Spiel schon läuft und freue mich über seine nette Begrüßung. Aber man sieht ihm an, dass er an diesem Abend vielleicht gerne auf unserer Seite stehen würde. Er ahnt vermutlich, was heute passieren kann. Nach zwei Jahren, in denen der THW kein Wort um die Meisterschaft mitgesprochen hatte, könnte heute der größtmögliche Nackenschlag “seiner” ehemaligen Löwen folgen. Das Spiel läuft gut. Beide Mannschaften spielen defensiv. Nach 10 Minuten steht es lediglich 2:2. Zur Halbzeit führen wir mit einem Tor Vorsprung. Jetzt war der Moment gekommen, in dem wir uns zusammensetzen mussten.

Nach dem Halbzeitspiel holt mich Fabian ab. Fabian organisiert die Heimspiele. Wir gehen ins Produktionsbüro. Dort wird mir der Plan für die wohl spontanste Meisterfeier aller Zeiten vorgestellt. Ich sage es ganz deutlich! Bei 13.000 Zuschauern war direkt klar, dass nur ein Bruchteil auf das Spielfeld gehen dürfte. Bei vielen anderen Sportarten hätte das für jede Menge Bauchschmerzen gesorgt. Aber nicht beim Handball. Der Plan steht und ich verlasse den Raum mit einem motivierenden Klatschen und den Worten: “Jetzt holen wir uns das Ding”. So richtig teilen konnte man in Sicherheitskreisen meine Euphorie zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht. Zurück in der Arena leuchten die Ergebnisse aus den anderen Hallen auf dem Würfel auf. Ich sitze schon wieder an meinem Platz und bemerke, dass ich mein Mikrofon im Produktionsbüro liegen gelassen habe. Unter dem Gelächter einiger Zuschauer geht es im Vollsprint zurück zum Produktionsbüro. Im Pressegang kommt mir dabei Anett Sattler von Sport1 entgegen. Sie fragt was los ist und ich antworte ihr kurz und knapp: “Mikro vergessen”. Sie lacht und entgegnet: “Anfängerfehler”. Sie hat eindeutig Recht.

Die zweite Halbzeit ist schnell zusammengefasst. Eine unglaubliche Stimmung und eine völlig euphorisierte Löwen-Mannschaft die den THW Kiel wie eine Lawine überrollt. Ich schaue zum Ende der zweiten Halbzeit auf Thorsten Storm. Er zieht es durch. Steht am Eingang und schaut sich das Spektakel an. Ich denke mir: “Herzlich Willkommen, liebe Zebras – Auf UNSERER Meisterfeier”. Spätestens als Hendrik Pekeler den Ball das zweite Mal im leeren Tor unterbringt ist klar: Wir sind deutscher Meister! Aus dem “Stell dir mal vor” wird ein “Davon werden wir noch unseren Enkeln erzählen”. Die vor Jahren schon als Vizelöwen verunkten Mannheimer Handballer werden heute zum zweiten Mal hintereinander deutscher Meister. Die Stimmung ist an diesem Abend so geil, dass mir nach einem Tor von Gudjon Valur Sigurdsson sogar kurz der Satz “Ich liebe euch alle – Jeden einzelnen von euch” entfährt. Niemand denkt mehr klar in dieser Phase des Spiels. Die Löwen führten zwischenzeitlich mit 11 (!!) Toren gegen Kiel. Was eine Machtdemonstration. Mit unserem Ex-Keeper Niklas Landin habe ich sogar kurz Mitleid, als er gegen Andi Wolff ausgetauscht wird. Aber auch der “große böse Wolf” – unser EM-Held kann für den THW Kiel nichts mehr retten. Den Mikael Appelgren. Der Mann mit der goldenen Löwenmähne hält wie ein Irrer Ball für Ball. Die letzten Sekunden verlaufen wie in Trance. Aus einem kollektiven “Oh wie ist das schön!” wird eine Masse, die zum zweiten Mal an diesem Abend einen Countdown von 10 runterzählt. Jetzt ist es amtlich! DEUTSCHER MEISTER 2017.

Bild: Daniel Glaser

Der Rest ist Tumult auf dem Platz. Ehe ich mich versehe bekomme ich die ersten Bierduschen ab. Spätestens als Harald Reinkind mich festhält. Filip Taleski mir meinen Trikotkragen nach hinten zieht und Hendirk Pekeler eine ganze Magnumflasche Bier in meine Klamotten kippt wird mir klar: Ich habe keine Wechselklamotten dabei. Und das war mir völlig egal. Der Rest ist Geschichte. Die Fans hielten sich an alle Anweisungen und die Riesenparty konnte starten. Als ich noch ein paar organisatorische Dinge über das Mikro verkündete ulkte Sport1-Experte Stefan Kretzschmar noch live im TV:  “Hier ist wirklich nichts organisiert. Das ist echt unfassbar! Sie haben damit nicht gerechnet”. Er hatte Recht. Trotzdem war die Party einmalig und ging bis spät in die Nacht. Ach ja. Ich war tatsächlich um 11 Uhr wieder an meinem Schreibtisch bei der neuen welle in Karlsruhe. In Jogginghose und mit Sonnenbrille. Was ein geiler Abend!

Quelle: http://www.kevingerwin.de/portfolios/unfassbar-loewen-verteidigen-die-meisterschaft/